Cover
Titel
Medicine in First World War Europe. Soldiers, Medics, Pacifists


Autor(en)
Reid, Fiona
Erschienen
London 2017: Bloomsbury
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Gradmann, Institutt for helse og samfunn, Universitetet i Oslo

Die jüngere Historiographie des Ersten Weltkrieges hat der Erfahrungsgeschichte wesentliche Impulse zu verdanken. Jenseits von Politik, Strategie und Technologie hat sie das Erleben des Krieges durch Soldaten wie auch seine Wahrnehmung in den involvierten Gesellschaften stärker akzentuiert. Die Medizingeschichte des Krieges hat von dieser Weiterung ganz erheblich profitiert: In älteren Medizingeschichten des Krieges erschien dieser gerne als eine Art Leistungsschau oder als ein Labor der modernen Medizin ihrer Zeit – man denke an Impfungen, Seuchenbekämpfung oder Chirurgie.1 Demgegenüber brachte die erfahrungsgeschichtliche Erweiterung der Kriegsgeschichte neue Themen und Perspektiven auf den Plan: Die Bedeutung medizinischer Versorgung für den disziplinarischen Apparat des Militärs, das Erleben und Erinnern von Verwundungen und Angst auf Seiten der Soldaten und auch die Einbindung der zivilen Gesellschaften in die sich totalisierende Kriegführung. Forschungen über sogenannte Kriegsneurotiker und ihre Behandlung, über Hungerkrisen im Krankenhauswesen oder über Seuchenbekämpfung in besetzten Gebieten können dafür als Beispiele dienen.2

Fiona Reids Medicine in the First World War: Soldiers, Medics, Pacifists fügt sich in diesen erfahrungsgeschichtlichen Trend ein. Das Buch ist konzipiert als eine Geschichte des erlebten und überlebten – weil erinnerten – Krieges, in dem medizinische Versorgung, Verwundung, Angst, Schmerz, Alkoholkonsum und anderes mehr eine wichtige Rolle spielten. Die gut 200 Seiten sind in vier Großkapitel unterteilt. Sie behandeln jeweils den Weg vom Schlachtfeld ins Lazarett oder ins Krankenhaus, die Bedeutung neuartiger, dramatischer oder entstellender Verwundungen im Zusammenhang mit Kampfgas, Verstümmelungen oder traumatischen Neurosen, die Bedeutung von Angst, Schmerz und deren Bewältigung nicht zuletzt mit Drogen und schließlich die Rolle von Pazifisten in der medizinischen Versorgung. Anders als im Pazifismus der Zwischenkriegszeit waren die häufig religiös motivierten Pazifisten daran interessiert, den Dienst mit der Waffe zu umgehen, zugleich jedoch eine Stigmatisierung als Drückeberger zu vermeiden. Sanitätsdienst erschien da als ein akzeptabler Ausweg.

Reid selbst, die für ihre Arbeiten zur traumatischen Neurose und ihrer Bewältigung in der Geschichte des Ersten Weltkrieges bekannt ist, führt die Behandlung des Themas weit über den Themenkreis der Kriegspsychiatrie hinaus. Sie schreibt über die Bedeutung des Alkoholkonsums, über die Angst vor und das Erleben von Verletzungen, erklärt den zeitgenössischen Pazifismus und schreibt über die relative Hilflosigkeit der Medizin in der sich industrialisierenden Kriegführung. Materialbasis der Darstellung sind im wesentlichen Erinnerungen, Tagebücher und Briefe von Soldaten. Sie entstanden teilweise nahe am ursprünglichem Geschehen, aber auch als Erinnerungsliteratur, wie sie nach dem Krieg in großer Menge verfasst wurde. Die Verfasser sind zumeist Soldaten und entsprechend ist es nicht die medizinische Versorgung aus Sicht der Medizin oder der militärischen Kommandohierarchie, die im Buch dominiert, sondern das Erleben des bedrohten oder verletzten soldatischen Körpers. Reid schreibt damit eine medizinhistorische Erfahrungsgeschichte des Krieges aus der Perspektive derjenigen, die dessen unmittelbare Teilnehmer waren, mit ihrer Verwundung rechneten und überlebten – jedenfalls bis zur Abfassung ihrer Erinnerungen.

Der Reichtum dieser Quellen ist beachtlich und die Autorin interpretiert sie anschaulich und souverän. Allerdings sollten einige Einschränkungen, die in Quellenauswahl und Vorgehensweise begründet liegen, nicht übersehen werden: Die Geschichte des Krieges wird so überwiegend zu einer Geschichte der Armee und ihrer Angehörigen. Da Quellen britischen Ursprunges dominieren, wird die Geschichte zudem in hohem Grade eine der Westfront oder der auf sie gerichteten Strukturen wie Lazarette in der Heimat. Andere Kriegsschauplätze wie der Balkan oder Osteuropa kommen nur am Rande vor. Auch verschwindet die Chronologie des Krieges weitestgehend, Erfahrungen vom Anfang und Ende des Krieges werden kaum in dieser Eigenschaft diskutiert. In Reids Text erscheint der Krieg als eine knapp über vier Jahre währende Totalität, eine Art Paralleluniversum, in welches Soldaten eintraten und in dem die Zeit gewissermaßen still zu stehen scheint. Dabei wäre doch anzunehmen, dass sich mit dem Wandel der militärischen Situation auch der Erfahrungsraum des Krieges veränderte. So gab es beispielweise die chemische Kriegsführung am Anfang des Krieges so gut wie gar nicht. Sie gewann dann im Laufe des Krieges an Bedeutung und prägte schließlich die Erinnerung an den Krieg.

Bedauerlich ist auch, dass die Darstellung sehr stark auf britischen oder jedenfalls auf Englisch vorliegenden Quellen beruht. Die Autorin richtet zwar ihr Interesse deutlich auf andere am Krieg beteiligte Armeen und ihre Soldaten. Allerdings werden deutsche, französische und andere Perspektiven nur insoweit berücksichtigt, als ihre Quellen in englischer Übersetzung vorliegen. Das funktioniert in einigen Fällen besser als in anderen: Was zum Beispiel die traumatischen Neurosen betrifft, ist der auf English publizierte Forschungstand absolut ausreichend, sodass man Quellen in anderen Sprachen nicht wirklich vermisst. Für den Gaskrieg lässt sich das nicht behaupten.3 Außerdem verschwindet gerade aufgrund der etwas einseitigen Quellenbasis der Krieg jenseits der Front ein wenig aus dem Blickfeld: Der verwüstete Westen Frankreichs, die verelendete Zivilbevölkerung Osteuropas kommen nur am Rande vor. Auch liegen wichtige Quellen wie etwa der Sanitätsbericht des deutschen Heeres nicht in Übersetzung vor. Es wäre dennoch geboten gewesen, sie bei der Diskussion von Fall- und Verletztenzahlen mit einzubeziehen.

Man kann also eine gewisse Engführung des Themas bedauern, muss aber auch anerkennen, dass die Darstellung im gegeben Rahmen sehr gut funktioniert. Die Text ist flüssig geschrieben, anregend zu lesen und die Vertrautheit der Autorin mit der britischen Erinnerungsliteratur ist beeindruckend. Gerade Studierende werden den Umstand, dass zudem jedes Kapitel mit einer kommentierten Liste wichtiger Literatur und Quellen versehen ist, zu schätzen wissen. Auch ein Register und eine didaktisch gut gegliederte Literaturliste sind vorhanden.

Für alle, die sich als Studierende oder Forscher/innen mit der Erfahrungsgeschichte der medizinischen Versorgung an der Westfront befassen wollen, bietet Fiona Reids Text einen überaus anregenden und nützlichen Einstieg. Anstelle der klassischen Frage, ob nun der Krieg gut für die Medizin gewesen sei, stellt die Autorin anschaulich dar, wie die Militärmedizin den Soldaten begegnete und wie diese wiederum ihre eigene bedrohte und beschädigte Körperlichkeit im Kriege erlebten.

Anmerkungen:
1 Hierzu: Wolfgang U. Eckart, Medizin und Krieg. Deutschland 1914–1924, Paderborn 2014, S. 65–87. Für ein zeitgenössisches Beispiel siehe, Otto von Schjerning, Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkriege 1914/1918. Band 7: Hygiene, Leipzig 1922.
2 Man denke etwa an Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie, Freiburg 1998.
3 Als Ausgangspunkt: Marion L. Girard, A Strange and Formidable Weapon. British Responses to World War I Poison Gas, Lincoln 2008.